Was extreme Einstellungen mit der Erziehung zu tun haben

(Für klasseKinder!) Wer rechte Tendenzen und autoritären Populismus verstehen will, muss auf die Kindheit schauen, sagt der Kinderarzt und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster.

Ulrike Schattenmann: Herr Renz-Polster, Sie sagen, dass extreme Gesinnungen damit zu tun haben, wie Kinder ihre Kindheit verbringen. Wie kommen Sie darauf?

Herbert Renz-Polster: Wenn man sich auf der Landkarte anschaut, wo der Rechtspopulismus am stärksten ausgeprägt ist, sowohl international als auch innerhalb unseres Landes, dann kann man feststellen, dass überall dort auch Kinder widrig, streng und nachteilig behandelt werden. Die Landkarten des Rechtspopulismus sind auch Landkarten der kindlichen Not.

Sie haben Studien ausgewertet über Kindheiten in vielen Ländern, mit teilweise überraschenden Ergebnissen: So gilt es in den USA vielerorts als gängige und legitime Erziehungspraxis, Kinder zu schlagen – auch in der Schule.  

Ja, laut Umfragen stimmen mehr als 70 Prozent der Aussage zu, dass es okay ist, Kinder zu schlagen. Die höchsten Zustimmungsrate lagen alle in den Bundesstaaten, die bei der vorletzten US-Wahl an Donald Trump fielen.

Also gibt es eine Verbindung zwischen einer Kindheit voller Gewalt und einer Neigung zum Autoritarismus?

Dass Kinder, die durch Demütigung und Gewalt gebrochen werden, als Erwachsene selbst oft gewalttätig werden, ist bekannt. Aber es ist ein wenig komplizierter. Gewalt ist ein Marker, aber umgekehrt reicht die Abwesenheit von Schlägen nicht aus. Gewalt ist ein Marker für widrige Erziehungsbedingungen, aber umgekehrt reicht die Abwesenheit von Schlägen als Schutz vor späteren autoritären Haltungen nicht aus.

Worum geht es dann?

Letztendlich um die zentrale Frage: Wir bauen Kinder emotionale Sicherheit auf? Wie schaffen sie es, sich in der Welt wohl und beheimatet zu fühlen? Das hat wesentlich damit zu tun, wie wir sie in ihrem Alltag behandeln. Also wie wir Erwachsene auf ihre Signale reagieren, auf ihre Bedürfnisse eingehen oder uns ihnen gegenüber durchsetzen.

Stichwort Sauberkeitserziehung und Schlaftraining. Was hat es damit auf sich?

Es gab eine Zeit, in der schon sehr kleine Kinder aufs Töpfchen gezwungen wurden, weil sie möglichst früh sauber werden sollten, in der es selbstverständlich war, dass man sie nachts hat schreien lassen oder dass sie am Tisch alles aufessen mussten. Solche Erfahrungen sind dann der Resonanzraum, den die Kinder auswerten: Wie gehen Menschen mit mir um? Werde ich gesehen mit meinen Impulsen und meinen Wünschen? Wird mein Weinen gehört? Habe ich eine Stimme oder bin ich hilflos ausgeliefert? Wenn man sich die Programme der populistischen Parteien anschaut, dann dreht sich vieles genau um diese Fragen  – Anerkennung, Zugehörigkeit, Sicherheit.

Und diese Fragen werden eben bereits in der Kindheit verhandelt. Wenn Kinder darauf gute Antworten bekommen, bauen sie eine innere Heimat auf, „die Welt ist gut und ich bin ok so wie ich bin.“ Wenn nicht, versuchen sie ihr Leben lang, anderswo Antworten zu finden.

Kinder, die in feinfühligen und fürsorglichen Beziehungsmustern aufwachsen, sind also weniger anfällig für Rechtspopulismus?  

Wer als Kind die Grundsignale von emotionaler Sicherheit und Wirksamkeit erfährt, ist auch später selbstsicherer und anderen gegenüber mitfühlender – und er kann sozial zweideutige Situation besser einschätzen, also unterscheiden, ob jemand etwas mit böser Absicht oder aus Versehen macht. Wer hingegen in der Kindheit nicht gelernt hat, seiner eigenen Stimme zu glauben, wird eher auf Kontrolle und Unterwerfung setzen.

Bildung und Begegnung mit Fremden helfen, Vorurteile abzubauen – aber entscheidend ist, wie man miteinander umgeht, schreiben Sie. Was bedeutet das für Schule und Ganztag?

Bildung ist wichtig. Aber sie glückt nur dann, wenn auch die Beziehungskultur in Schule stimmt. Kinder brachen einen Haftgrund, sie müssen sich wohl und aufgehoben fühlen. Eine Einrichtung, die Kindern keine Heimat bieten kann, sie gar beschämt oder ausgrenzt, kann keine Bildungseinrichtung sein. Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Schule hier auf doppelten Boden steht.

Inwiefern?

Schulen haben zum einen den Bildungsauftrag, aber sie sind zum anderen auch Selektionsreinrichtungen. Dieser Auftrag der Auslese kommt dem Bildungsauftrag hartnäckig in die Quere. Das sieht man an den Kindern, die zu Hause wenig Rückenwind haben, keine gute Lebens- und Beziehungsmodelle kennenlernen konnten, gestresst sind. Sie haben Bildung am nötigsten. Aber wir zeichnen allzu oft  diejenigen aus, die von der Natur aus Talente und von zu Hause aus soziales Kapital mitbekommen haben. Die anderen, die nicht vom Leben geküsst sind, bekommen die Abwertungen. Wir müssen uns diesen doppelten Boden bewusst machen, sonst werden wir immer an unserem Bildungsauftrag scheitern.   

In Ihrem Buch gehen Sie auch kritisch mit dem Leistungsstolz vieler Eltern um.  Machtausübung und ein kontrollierender Erziehungsstil kommen in ganz verschiedenen Formen und in allen Milieus vor. Gerade in den sogenannten besten Kreisen, die sehr leistungsorientiert sind, wird oft Druck ausgeübt. Dahinter steht die Einstellung „Ich vertraue Dir nicht, dass du deine Ziele erreichst, daher muss ich dich dazu bringen mittels Belohnung, Bestrafung, Beschämung.“

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Was ist falsch daran, die Kinder darauf vorzubereiten?

Ich glaube, es braucht grundsätzlich mehr Verständnis dafür, was Kinder stark macht und für das Erwachsenenleben vorbereitet. Kinder, die leuchtende Augen haben, die neugierig sind, die Rückgrat haben, sind für die Gestaltung ihres Lebens gut gerüstet – und sie sind resistent gegen die Verlockungen der Ideologien.

Was geben Sie Pädagogen und Fachkräfte mit auf den Weg? 

Um Kindern Rückenwind geben zu können, müssen wir uns in unserem Job wohlfühlen und weiterentwickeln können. Ich rate allen, die in der Schule mit Kindern arbeiten, darauf zu achten, ein lernendes Umfeld zu haben.

Gehört nicht letztendlich auch das kritische Hinterfragen der eigenen Kindheit dazu? Was tun, wenn man selbst autoritär erzogen wurde?

Glücklicherweise haben viele Menschen auch noch andere Modelle kennengelernt, die hatten vielleicht eine autoritäre Mutter, aber einen empathischen Vater. Und das Wunderbare ist ja auch, dass Bindungsmodelle nicht in Beton gegossen sind. Sie sind eher wie ein Geflecht, in dem man immer wieder neue Erfahrungen einflechten kann. Natürlich sind die ersten Fäden der frühen Kindheit wirkmächtig, aber es kommt immer wieder etwas dazu. So wir Kinder sich entwickeln, so entwickeln sich auch Erwachsene weiter. Man muss sich nur trauen und auf den Weg machen.

Die Fragen stellte Ulrike Schattenmann. Das Interview erschien in der Ausgabe der Zeitschrift klasseKinder! 3/19.

Dr. Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und assoziierter Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Seine Bücher haben die Erziehungsdebatte in Deutschland maßgeblich beeinflusst. www.kinder-verstehen.de

Buchtipp
Herbert Renz-Polster, Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte  –  und wie wir ihn aufhalten können. Kösel-Verlag, München 2019. 320 Seiten, 20 Euro.

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